Klaus Riemer will junge Menschen für die Demokratie begeistern

Jan 17 2019

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Eine etwas ungewöhnliche E-Mail ging dieser Tage bei der Ersten Kreisbeigeordneten Stephanie Becker-Bösch ein. Dr. Klaus Riemer, Neubürger in Bad Nauheim, hatte in der Zeitung gelesen, dass die Wetterauer Sozialdezernentin beim bundesweiten Vorlesetag in einer Schule vor Kindern gelesen hat. „Ich möchte aber meine Erlebnisse, die ich im Nationalsozialismus, in der DDR-Diktatur, beim Mauerbau und beim Mauerfall erlebt habe, gerne weitergeben.“

Bei einem Besuch des 87-Jährigen wurde schnell klar: Der Mann hat viel zu erzählen. Der promovierte Theaterwissenschaftler lebt mit seiner Frau seit eineinhalb Jahren in Bad Nauheim am Rande des Kurparks. „Der Blick ist grandios, und oft gehen wir dort spazieren. Ich möchte aber gerne auch noch etwas Sinnvolles und Produktives machen und meine Erfahrungen weitergeben.“

Das hat Klaus Riemer im Übrigen schon getan: im Internet. Das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn hatte vor einigen Jahren schon die Idee, ein Zeitzeugenportal zu eröffnen, bei dem unterschiedliche Zeitzeugen durch ihre Erzählungen und Erinnerungen die Vergangenheit lebendig werden lassen. Dabei kann man die kleinen und großen Ereignisse der deutschen Geschichte entdecken und nacherleben.

Klaus Riemer steht dabei in einer Reihe mit Kurt Masur, dem legendären Konzertmeister des Leipziger Gewandhausorchesters, mit dem Philosophen Herbert Marcuse, dem Schriftsteller Erich Loest, der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, der Theologin Dorothee Sölle, aber auch Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Marcel Reich-Ranicki, Simon Wiesenthal und vielen anderen Politikerinnen und Politikern, Personen der Zeitgeschichte.

Die platonische Liebe Edith wurde in Auschwitz vergast

Klaus Riemer, 1931 in Berlin geboren, erlebte als siebenjähriger Knirps wie seine platonische Liebe Edith zum Opfer in der Reichspogromnacht wurde. „Mit ihrem Bruder David habe ich als Kind gespielt. Mein Vater verkaufte den jüdischen Nachbarn in seinem kleinen Kolonialwarenladen Lebensmittel aus ‚Schwundmitteln‘ über die Lebensmittelkarte hinaus.“ Die Kinderliebe Edith wurde in Auschwitz vergast, genauso wie ihre Mutter. Der Vater und der Freund aus Kindertagen überlebten als Arbeiter in einer Munitionsfabrik und emigrierten später in die USA.

Berlin war schon früh von Bombenangriffen betroffen. Die Nazis haben ihre künftigen Soldaten in Sicherheit gebracht. Im Rahmen der „Kinderlandverschickung“ kam Klaus Riemer zunächst nach Usedom, später in den polnischen Wintersportort Zakopane. „Da haben wir uns mit polnischen Kindern angefreundet, die haben uns Skilaufen und sogar Skispringen beigebracht. Die Lehrer haben nicht eingegriffen, das waren auch keine strammen Nazis. Die jungen Lehrer waren mittlerweile schon an der Front. Wir wurden von reaktivierten Pensionären beschult, die dem System weitaus kritischer gegenüberstanden.“ Mit näherkommender Front wurden die jungen Gymnasiasten noch einmal verlegt, diesmal in die Tschechoslowakei, nahe Tabor, wo Klaus Riemer mit 14 als Volkssturmmann eingezogen wurde im Kampf gegen Fallschirmjäger. „Wir waren mit Handgranaten und aufgepflanzten Bajonetten im Wald unterwegs. Gott sei Dank hatten wir niemals Feindberührung.“

Nach dem Krieg kam Klaus Riemer zurück in das zerstörte Berlin. Das Elternhaus wurde notdürftig hergerichtet, der Laden im Osten Berlins wieder eröffnet. Nach dem Abitur machte er eine Grafiker-Ausbildung in Ost-Berlin und arbeitete bei der Handelsorganisation (HO). Die Werbung bestand vor allem darin, drei Meter große Portraitbilder der Revolutionshelden Lenin und Stalin oder des DDR Staatspräsidenten Wilhelm Pieck zu malen. Die wurden mit Schriftzügen geschmückt, wie etwa „Weg mit dem Kurs Adenauer“. „Ich wurde darüber krank und bin dann 1955 in den Westen Berlins gegangen.“

Gewerkschafter versteckt

Den 17. Juni 1953, den Tag des Streiks gegen die hohen Arbeitsnormen in der DDR der zu einem Volksaufstand wurde, hat Klaus Riemer vor allem mit dem, was danach kam, noch in lebhafter Erinnerung. „Von den Demonstrationen habe ich eigentlich wenig mitbekommen. Wir waren in unserem Atelier und haben gearbeitet. Da kam ein Freund eines Kollegen, ein Gewerkschafter, der sich an dem Streik beteiligt hatte. Er war vor den russischen Panzern geflohen, und als er in seine Wohnung wollte, haben ihn Mitbewohner gewarnt, dass oben schon die Stasi warte. Wir haben den jungen Gewerkschafter bei uns im Atelier für drei Tage versteckt. Aus den roten Stoffbahnen, die in großer Menge hier lagerten, haben wir ihm ein bequemes Bett gebaut. Danach ist der Mann, wie so viele andre auch, in den Westen gegangen.“

In West-Berlin studierte Klaus Riemer Theaterwissenschaft, Germanistik, Psychologie, Kunstgeschichte und Publizistik. Den Mauerbau am 13. August 1961 erlebte er hautnah. „Wir haben an diesem Sonntag Freunde besucht, die ganz in der Nähe der Grenze wohnten. Es wurden ja nicht gleich diese hohen Mauern gebaut, sondern man hat Betonpfosten errichtet und daran Stacheldraht befestigt. Wenn die NVA-Soldaten weit genug entfernt waren, kamen Jugendliche aus West-Berlin und haben die Pfosten niedergerissen. Bekanntlich hatte das keinen Bestand, bald kam eine hohe Mauer, die die Menschen in Berlin auf Jahre trennte.“ Auch der Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern litt unter dieser unmenschlichen Grenze mitten durch die Stadt.

Nach Studium und Promotion arbeitete Klaus Riemer freiberuflich, um dann beim Bundespresseamt Sendungen über das Leben in Deutschland für Länder in Übersee zu produzieren. 1965 ging Klaus Riemer dann endgültig zum Fernsehen als Redakteur des Hessischen Rundfunks. „Ich arbeitete für das Bildungsprogramm.“ 1968 wurde er sogar mit dem Adolf-Grimme-Preis in Silber für die Redaktion der Sendereihe „Ein Kind wächst heran“ ausgezeichnet. Von 1970 bis 1993 war Klaus Riemer Redakteur beim ZDF, hier im Bereich Kultur, Dokumentarspiel, Fernsehspiel und Film. Oscar-Nominierungen und andere Fernsehpreise, wie der Silberne Bär für die Produktion „Wohin und zurück, das Boot ist voll“, folgten.

Nach 28 Jahren Mauer wussten wir nicht mehr viel voneinander

Den 9. November 1989 erlebte Klaus Riemer ebenfalls per Zufall auch in Berlin. „Wir haben Freunde besucht, die ganz in der Nähe des Wittenbergplatzes wohnten. Am Abend ging die Grenze auf. Die Freude war riesengroß, sicher im Osten mehr als im Westen. Wir hatten uns in den 28 Jahren der Mauer voneinander entfremdet. Wir wussten voneinander nicht mehr viel.“

Klaus Riemer ist ein wunderbarer Erzähler, der historische Geschehnisse aus der persönlichen Perspektive erzählen kann. Ein Stück lebendiger Geschichtsunterricht, und anders als im Zeitzeugenportal im Internet gibt es hier auch noch die Möglichkeit, Fragen zu stellen.

„Mir ist der Kontakt mit den jungen Leuten wichtig. Ich möchte ihnen davon erzählen, wohin übersteigerter Nationalismus führen kann und wie wertvoll unsere mühsam errungene Demokratie wirklich ist.“

Erste Kreisbeigeordnete Stephanie Becker Bösch ist begeistert von Klaus Riemers Idee als Zeitzeuge vor Schülerinnen und Schülern zu sprechen. Einen ersten Termin hat sie schon vereinbart. Ende Januar wird Klaus Riemer zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Weidiggymnasium in Butzbach sprechen.

Dr. Klaus Riemer in seinem Arbeitszimmer in Bad Nauheim unweit des Kurparks.

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